Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation

Beginn Sprachwahl


Beginn Inhaltsbereich

Beginn Navigator

Ende Navigator



Die Burka und das Parteiprogramm

Rede von Bundesrat Moritz Leuenberger an der Delegiertenversammlung der SP. Frauenfeld, 29.05.2010.

Ich habe ja schon mehrfach gestanden, vor einem TV-Auftritt länger darüber nachgedacht zu haben, welche Krawatte ich anziehe, als darüber, was ich sagen soll. Um mit einem Anliegen wirklich Erfolg zu haben, ist die Kleidung oft ausschlaggebend, nicht nur beim Fernsehen, auch im Parlament und sicher auch ein wenig bei Delegiertenversammlungen. Es lohnt sich immer, der aktuellen Mode Beachtung zu schenken.

Trotzdem, ich habe heute keine Burka angezogen.

Wenn ich aber in die Talk Shows der Privatfernseher, in den Zischtigs Club oder in die Arena zappe, nimmt in letzter Zeit immer mindestens eine Person mit Burka teil. Das beweist: Die Burka ist im Kommen. Immer mehr Frauen konvertieren und tragen eine Burka. Sie ist eines der allergrössten Probleme, das es in der Schweiz überhaupt gibt.

Ich musste nun für mein Departement eine Task Force Burka einsetzen, denn es stellen sich viele Fragen: Es ist zum Beispiel klar, dass eine Burka eine grosse Beeinträchtigung beim Autofahren bedeutet, weil das Gesichtsfeld eingegrenzt ist. Burkaträgerinnen sollten also den öV benutzen, z.B. den Autoverlad Burka. Das dient zwar der Verlagerung, doch stellen sich neue Probleme: Die Abbildung auf dem GA der SBB könnte, weil es so unglaublich viele Burkafahrerinnen gibt, zu Verwechslungen führen.

So wie die Burka ist ja auch die SVP gross geworden: Zunächst war sie eine ganz kleine Partei, doch in der Arena wurde stets die SVP eingeladen, weil sie damals noch aus dem Rahmen fiel und so überproportional Aufmerksamkeit erreichte.

***

Im gegenseitigen Ringen um Einschaltquoten wird öffentliche Empörung geschürt. Die Medien greifen so aktiv in das politische Geschehen ein. Sie vermitteln einen Eindruck, der mit der Realität überhaupt nichts zu tun hat. Sie suggerieren ein Problem, das nicht existiert. Und je häufiger dieses Schein-Problem auf allen Fernsehkanälen diskutiert wird, desto kürzer ist mitunter der Weg zur Überzeugung, die Burka sei tatsächlich omnipräsent und müsse also in der Verfassung verboten werden.

Nicht existente Probleme zur Gefahr heraufzubeschwören ist eine politische List. Die Minarette waren nie eine Gefahr für die Schweiz - die jetzt angenommene Initiative schon eher. Ich erinnere mich an eine riesige Demo gegen eine Beschränkung der Geschwindigkeit von Töffs auf der Autobahn auf 80 km/h. Eine solche Beschränkung stand aber nie zur Diskussion; in vielen Interviews habe ich das immer und immer wieder bestätigt. Vergeblich: An der Demo wurden mutige und wütende Reden gehalten. Dass 60-Tönner in der Schweiz zugelassen würden, ist ebenfalls keine Gefahr. Um die Gefahr dennoch heraufzubeschwören, wird nun eine Initiative gegen Giga-Liner lanciert. Das ist aber eigentlich gar nicht einmal so ungeschickt.

Probleme aufzublasen und damit Ängste zu schüren und diese auf die öffentliche Traktandenliste zu setzen, ist eine politische Taktik. Wir wissen natürlich: Alle politischen Parteien und auch alle NGOs wenden solche taktischen Kniffe an.

Etwas anderes ist dies bei der SRG. Sie hat in der direkten Demokratie die besondere mediale Aufgabe des Service public, und die ist nicht mit einer politischen Partei zu vergleichen. Sie muss sich bewusst sein: Effekthascherei erhöht zwar die Einschaltquote, aber sie verzerrt auch die Realität. Schlimmer, sie übernimmt so die politische Traktandenliste einer kleinen Minderheit und bläht sie mit ihrer medialen Macht auf. Das ist journalistisch äusserst fragwürdig und ich bin froh, ist beim neuen Generaldirektor auf das Kriterium „journalistische Qualität" geachtet worden.

Es gibt noch eine weitere Facette dieses Phänomens. So wie die Burka, vielleicht gerade weil sie selten ist, Aufmerksamkeit und Empörung auslöst, so beachten wir ein seltenes, spektakuläres Ereignis viel stärker als eine stille Katastrophe. Die Aschenwolke hielt die Welt in Atem. Die Radioprogramme wurden immer wieder unterbrochen, um stets dasselbe mitzuteilen, nämlich dass keine Flugzeuge fliegen. Dabei hat dieses Naturereignis kein einziges Menschenleben gefordert.

Für die täglichen Toten im Strassenverkehr gibt es diese Empörung nicht. Immerhin sterben pro Jahr 1,3 Mio Menschen auf den Strassen dieser Welt, mehr als an Aids. Trotzdem hat es ein Programm wie Via sicura äusserst schwer, während eine Initiative gegen Raser rasch auf die Beine gestellt ist, auch wenn sie das Rasen auch nicht verhindern kann.  

Für die tägliche Hungerkatastrophe in der dritten Welt gibt es diese Empörung nicht und auch nicht für die Folgen der Klimaerwärmung in anderen Kontinenten, Folgen wie Hunger und Armut, Flucht und Migration.

Die wahren Katastrophen sind nicht nur dort, wo die Kameras sind. Die wahren Probleme sind nicht nur diejenigen, über die sich die Medien entsetzen.

***

Wer die Welt politisch gestalten will, darf sich nicht einfach von Knalleffekten leiten lassen, und er darf auch nicht bloss auf den hin und her wogenden Wellen der Empörung schaukeln. Er darf nicht immer nur auf die Sorgenbarometer schielen, sondern muss den Mut haben, auch das stille Elend der Welt anzugehen und zwar systematisch. Entscheidend sind die politische Überzeugung, die Ziele, die wir vor Augen haben und die Mittel, mit denen wir diese Ziele erreichen wollen. Das macht die Glaubwürdigkeit von Politik aus und nicht ständiges taktisches Changieren. Wenn wir zu unseren Überzeugungen stehen, können wir die Menschen auch dazu bringen, sich mit den wahren Problemen zu befassen, statt mit imaginären.

Das gilt auch für eine Partei. Ich kann Parteien dann nicht mehr so richtig ernst nehmen, wenn sie sich nur noch damit definieren, in welchem Abstand zur Mitte sie sich positionieren wollen.

Gewiss gehört Taktik zur Politik. Aber wenn die Taktik zum Selbstzweck verkommt, wird die Politik reduziert auf das Ringen um Prozente. Wir können nicht die Medien kritisieren, sie hechelten nur der Quote hinterher, und gleichzeitig eine Politik betreiben, die allein dem kurzfristigen Erfolg in Prozenten verpflichtet ist. Wir setzen die Messlatte für guten Journalismus zu recht hoch an. Wir sollten sie für unsere politische Tätigkeit nicht tiefer anlegen. Politik lebt im Kern stets von der Überzeugung, vom Inhalt.

Wer inhaltliche politische Ziele verfolgt, wer sich nicht begnügen will, nur die Tagesempörung zu bewirtschaften, braucht deshalb ein systematisches politisches Programm. Ich bin daher froh, dass die Partei den Mut hatte, die Programmdiskussion neu zu lancieren. Auch hier ist es bezeichnenderweise so, dass der sperrigste, vielleicht etwas ulkige Punkt dieses Programms als einziger Einzug in die Tagesmedien fand, nämlich das historisch erklärbare Vermächtnis, wonach der Kapitalismus zu überwinden sei. Auch ich habe mich in der Folge etwas lustig gemacht bei einer Rede zum Jubiläum der Alternativen Bank und darüber gerätselt, ob Überwindung wohl den Wind über dem Kapitalismus meine, eine Art Windenergie oder ob „Überwindung des Kapitalismus" in Wirklichkeit nicht eher bedeuten müsse, dass der Kapitalismus uns alle schon lange überwunden habe. Vielleicht überwinden wir das Kapitel ja noch bis zum Herbst ...

Aber ich habe auch ausdrücklich die Notwendigkeit eines solchen Programms gelobt und ich möchte das auch heute tun. Die SP stellt sich immerhin Grundsatzfragen, während andere Parteien überhaupt kein Programm haben, weil sie entweder keine Positionen haben oder weil die Positionen von der Parteispitze vorgegeben werden.

Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, um sich mit einer aus dem Ruder gelaufenen und falsch verstandenen Wirtschaftsfreiheit zu befassen und die Wirtschaft in die Verantwortung zu nehmen ?

Es geht wohl weniger darum, den Kapitalismus als solchen zu überwinden, sondern eine ganz bestimmte Form des Kapitalismus, nämlich den schrankenlosen, ungezügelten Kapitalismus, der sich nach dem Fall der Mauer breit machte, dessen Auswüchse nun für die Finanzkrise verantwortlich sind und dafür, dass wir die Folgen der Krise mit Staatsinterventionen und Sparprogrammen zu heilen versuchen.

Es kam zur Finanzkrise wegen einer ökonomischen Monomanie, wegen der Ignoranz darüber, dass Freiheit auch Verantwortung bedeutet, und nicht weil das Bankgeheimnis per se etwas Böses wäre. Mit der Wirtschaftsfreiheit wussten zu viele Kunden und Banken nicht umzugehen. Und auch die Politik verharrte im Banne des Bankendiktats und wollte nicht wahrhaben, was längst absehbar war: nämlich dass die Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug nicht zu halten sein werde.

Und so suchen nun alle Parteien fieberhaft nach neuen Geldstrategien:

  • Die einen sind für eine konsequente und glaubwürdige Weissgeld-Strategie.
  • Andere finden, Schwarzgeld solle bei uns bleiben; ausschaffen sollen wir Menschen.
  • Auch unsere freisinnigen Freunde haben sich nach mühseligen Debatten endlich zu einer absolut klaren Strategie überwunden: Sie fordern jetzt eine kompromisslose „Sowohl-schwarz-als-auch -weiss-Geldstrategie", getreu dem altrömischen Grundsatz „pecunia non coloret" - Geld hat keine Farbe.

Der Bundesrat hat entschieden, die Vorschriften bezüglich Eigenmittel, Liquidität und Risikoverteilung zu verschärfen und exorbitanten Löhnen und Boni künftig Grenzen zu setzen.

Wie beim Staatsvertrag mit den USA ist aber schwer vorauszusagen, ob das Parlament hier dem Bundesrat folgt. Auch in dieser Frage gibt es absolut klare Strategien - die ebenso absolut und klar geändert werden: Die Überwindung eines Versprechens durch die Liebe zum Slalom.

Grundsätzlich gilt aber auch hier: Ein Bonus ist nicht à priori eine schlechte Sache. Der Unterschied zwischen einem Heilmittel und einem Gift liegt nur in der Dosierung.

Hüten wir uns also davor, Kapitalismus mit seinen Masslosigkeiten gleichzusetzen.

Es ist ja auch eine Tatsache, dass die Errungenschaften des Sozialstaates zum Teil gewissenlos ausgenutzt werden; dennoch kein Grund ihn zu verteufeln.  

Und so wie es populistisch und perfid ist, mit dem Schlagwort von Scheininvaliden (die es tatsächlich gibt) oder Sozialschmarotzern (die es tatsächlich auch gibt), gegen den Sozialstaat an sich zu polemisieren, so wollen wir den Kapitalismus nicht mit seinen kleptomanischen Auswüchsen gleichsetzen.

Es ist nämlich auch im Kapitalismus möglich, nachhaltig und verantwortungsbewusst zu wirtschaften.

Doch dazu braucht es Grundsätze, gesellschaftliche und politische Überzeugungen. Dazu braucht eine Partei ein Programm, das ihre Haltung zu Globalisierung, Ökonomisierung, Demokratisierung und Wertewandel festhält.  

So wissen wir doch auch, wo wir stehen und wohin wir wollen. Dies ist der ehrliche Kompass für unser politisches Gewissen und Handeln, nicht die Schlagzeilen der Gratiszeitungen.

***

Natürlich müssen wir ein Parteiprogramm auch attraktiv gestalten, denn die beste Politik nützt nichts, wenn wir sie nicht an den Mann und die Frau bringen. Ich habe deswegen einen PR-Experten gefragt, wie wir es anstellen sollen, dass das Parteiprogramm grosse Aufmerksamkeit erlange und in die Arena und in den Zischtigsclub komme. Er hat mir geraten:

Ein Parteiprogramm? Zwar eher out. Aber mit süffigen Formulierungen könnte es hinhauen. Z.B. Überwindung des Kapitalismus wäre geil. Und: Auf die Titelseite des Programms eine schöne Juso, am besten in einer Burka.

Zurück zur Übersicht Moritz Leuenberger
Zuletzt aktualisiert am: 29.05.2010


Ende Inhaltsbereich


Audio und Video

Hören Sie diese Rede unter folgendem Link:


Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK
info@gs-uvek.admin.ch | Rechtliches
http://www.uvek.admin.ch/dokumentation/00476/00477/01843/index.html?lang=de