Deutscher Herbst »Ich bin in Schuld verstrickt«Seite 7/7

ZEIT: »Wenn Studenten demonstrieren, dann schickt man nach Möglichkeit nicht die Polizei, sondern geht als Politiker hin und spricht mit ihnen.« Und Sie sagten auch: »Wegen der falschen Reaktion des Staates« auf die Demonstration würden sich »hundert- oder tausendmal mehr Leute« mit den »wilden SDS-Leuten« solidarisieren. Klingt anders als das, was Sie heute sagen.

Schmidt: Entscheidend ist der erste Satz. Dazu will ich mich äußern. Fünf Jahre vorher, es war 1962, war die Spiegel- Affäre. (Helmut Schmidt war damals Innensenator in Hamburg, Anm. d. Red.) Die Bundesanwaltschaft ließ damals die Büros des Spiegels besetzen – in demselben Gebäude, in dem Sie und ich heute bei der ZEIT sitzen. (Helmut Schmidt ist Herausgeber der ZEIT, die Redaktion in Hamburg befindet sich im Pressehaus am Speersort 1, Anm. d. Red.) An dem Tag der Durchsuchung kommt es zu aufgeregten Demonstrationen, die Studenten wollen zum Untersuchungsgefängnis, um Augstein rauszuholen. Schmidt hört davon, setzt sich mit seinem Freund Peter Schulz in einen Polizeiwagen mit Lautsprecher und Mikrofon und hält denen eine Rede unter freiem Himmel – und dirigiert sie um in das nahe gelegene Audimax der Universität. Da habe ich noch eine Rede gehalten, und alles endete in Friede, Freude, Eierkuchen.

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ZEIT: Ich habe gesammelt, was Sie zwischen 1967 und 1972 sonst über Studenten gesagt und über ihren Protest von sich gegeben haben: »irrational«, »schrecklich versimpelnde polemische Rhetorik«, »Selbstüberheblichkeit und Hybris«, »gefährliche Sozialromantiker«, »exklusive Arroganz«. Getoppt wird das nur noch von dieser Widmung: »Während wir hier im Kabinett reden, hauen die in Kiel dem Rektor auf die Fresse und scheißen im Gerichtssaal auf den Tisch.« Bereuen Sie diese Worte?

Schmidt: Heute würde ich mich ein bisschen anders ausdrücken. Aber noch heute würde ich sagen, dass das Leute waren, die auf die antifaschistische Propaganda der Moskauer und der Ostberliner hereingefallen sind, auch auf verschiedene Spielarten von Vulgärmarxismus. Es kommt etwas Besonderes dazu: Tatsächlich sind wir Deutschen unter Adenauer und später unter Erhard und Kiesinger, auch noch unter Brandt mit den schlimmen Nazis ein bisschen zu menschenfreundlich umgegangen.

ZEIT: Also können Sie diese Seite des Protestes verstehen?

Schmidt: O ja! Ich bin wegen meines jüdischen Großvaters nie in Gefahr gewesen, ein Nazi zu werden. Dieser Zufall oder die Genealogie – möglicherweise nur der Zufall – hat mich davor bewahrt. Ansonsten war die Masse derjenigen, die dann nach 1949 die deutschen staatlichen Büros bevölkert haben, Nazi-Mitläufer – und einige waren schlimme Nazis. Am schlimmsten waren diese Nazi-Mitläufer in der Justizverwaltung, als Richter wie als Staatsanwälte.

ZEIT: Sie waren als junger Vorsitzender des SDS auch nicht immer brav. In einem Rundschreiben von 1948 haben Sie geschrieben: »Der konservative, beharrende Charakter der deutschen Universitäten beruht zu einem Teil auf ihrer traditionellen Verfassung, welche die jüngeren Dozenten nur einen sehr geringen Einfluss auf die inneren Angelegenheiten ausüben lässt.« Das klingt fast schon wie die 68er-Parole »Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren«.

Schmidt: An der Kritik der 68er an der damaligen Universität ist nichts auszusetzen, sie war im Prinzip und in der Sache durchaus gerechtfertigt. Manche der deutschen Professoren haben 1968 und folgende noch einmal bewiesen, was sie für Feiglinge waren. Sie haben nämlich den Kopf eingezogen, statt sich hinzustellen und zu sagen: Gewalt gibt es hier nicht in meinem Seminar! Sie haben den Kopf eingezogen (wird laut) und sich genauso benommen wie zuvor unter den Nazis. Doch die Angst, der Faschismus stehe wieder bevor und die Große Koalition sei eine Art Wegbereiter, die war großer Quatsch. Aber die Kritik der jungen Leute an den Universitäten war absolut gerechtfertigt.

ZEIT: Ist das überwiegende Unverständnis gegenüber kritischen, engagierten jungen Leuten nicht auch der Hauptgrund dafür gewesen, dass aus dem Fleisch der Sozialdemokratie eine neue politische Kraft entstehen konnte – die Grünen, die bis heute die Sozialdemokraten schwächen?

Schmidt: Das ist abwegig. Wenn Sie bei uns und in den meisten anderen europäischen Ländern das Verhältniswahlrecht haben, dann ist es zwangsläufig so, dass Sie mit der Zeit viele Fraktionen und Parteien im Parlament haben – und nicht nur zwei Volksparteien. Wir können noch von Glück sprechen, dass wir nur sechs Parteien im Bundestag haben.

ZEIT: Trifft Sie der Vorwurf, Sie hätten damals nicht integrierend genug gewirkt?

Schmidt: Ich werfe mir das nicht vor – das ist Unsinn! Außerdem, bitte sehr, ich bin 1974 ans Ruder gekommen. Wenn Willy Brandt 1974 am Ruder geblieben wäre, wäre er bei der Wahl 1976 mit Pauken und Trompeten unterlegen. Und dann hätte eine Linksradikalisierung der Sozialdemokratie zwangsläufig stattgefunden. Ich habe immerhin 1976 und 1980 zwei Wahlkämpfe mit jeweils knapp 43 Prozent für die SPD gewonnen, wir lagen nicht wie heute unter 30 Prozent.

ZEIT: Gab es denn eine besondere Form des Terrorismus in Deutschland durch Baader, Meinhof und die anderen?

Schmidt: Ich habe den Verdacht, dass sich alle Terrorismen, egal, ob die deutsche RAF, die italienischen Brigate Rosse, die Franzosen, Iren, Spanier oder Araber, in ihrer Menschenverachtung wenig nehmen. Sie werden übertroffen von bestimmten Formen von Staatsterrorismus.

ZEIT: Ist das Ihr Ernst? Wen meinen Sie?

Schmidt: Belassen wir es dabei. Aber ich meine wirklich, was ich sage.

Das Gespräch führte Giovanni di Lorenzo

ZEIT-Geschichte
Analysen und Reportagen über den RAF-Terror in der neuen Ausgabe von ZEIT-Geschichte , u.a. mit Beiträgen von Heinrich Breloer, Christoph Diekmann und Helmut Schmidt. Ab 6.September am Kiosk oder unter Telefon 0180/525 29 09 oder per Fax 0180/525 29 08

 
Leser-Kommentare
  1. Diese Zeit in den 70ern hatte mich als Heranwachsenden sehr verunsichert, ja zuweilen zutiefst beängstigt. Sie hinterließ so bis zum heutigen Tag einen bleibenden Eindruck bei mir und wohl auch vielen anderen meiner Altersgruppe.
    Heute beeindruckt mich, wenn ich dieses Interview lese, die Klarheit und analytische Brillianz des Altbundeskanzlers Schmidt. Auch wenn seine Rethorik manchmal von offener Abneigung gegenüber jeglicher Unpräzision durchsetzt zu sein scheint, steht dieser zunächst fast arrogant wirkenden Haltung, eine für Staatsmänner dieser Größe unabdingbare und erhellende Ratio entgegen.
    Ich muss und will seine politische und menschliche Grundhaltung nicht uneingschränkt teilen, aber ich stimme ihm zu, dass es beängstigend ist, wenn zukünftig jüngere Politiker ohne den Rückgriff auf Erfahrungen wahren persönlichen Leidens (Krieg) und von Menschenverachtung (Terrorismen) politische Verantwortung für Themen solcher Tragweite übernehmen.

    Und die politischen Herausforderungen in diesen bedrohlichen Themen haben gerade erst begonnen zu wachsen.

  2. Provokativ und einseitig geführtes Interview, das die Ziele der RAF unterstützt:

    SCHULDIG ist die REGIERUNG - expliziert die SPD.
    ------------------------------------

    ”Ich teile Ihre Meinung nicht, ich werde aber bis zu meinem letzten Atemzug dafür kämpfen, daß Sie Ihre Meinung frei äußern dürfen.”
    Voltaire

  3. Dass dieses Interview gerade heute ganz weit oben auf der Startseite der Internet-Zeit zu finden ist, ist sicherlich kein Zufall. b1964 allerdings mag ruhig schlafen: Obwohl Frau Merkel weder einen Weltkrieg noch eine RAF-Phase zu bewältigen hat, plädiert sie im Fall von Geiselnahmen doch ausdrücklich gegen jedwedes Nachgeben den Forderungen der Geiselnehmer gegenüber. Zumindest heute noch, wo die Opfer keine Arbeitgeber-Präsidenten sind, sondern bloß einfache Techniker. Die deutsche Regierung ist eben noch immer hart wie Krupp-Stahl und wenn Terrorismus weiter ein Problem bleibt, liegt das nicht daran, dass Deutschland aktuell weiblich geführt wird. Es liegt eher an diesen doofen asiatischen Weicheiern... :-(

    Wie war das noch gleich? Wenn die SPD-Mitglieder heute ihren Kanzler direkt wählen dürften, hieße der Kanzler Frau Merkel. Es hat jeder die Erben, die er verdient.

  4. [Diesen Beitrag haben wir entfernt, bitte vermeiden Sie Beiträge, die nur darauf abzielen DIE ZEIT und ihre Autoren zu diffamieren und Werbung für andere Pages zu machen/ Redaktion]

  5. weil Sie grundsätzlich das Argument der Erpressbarkeit des Staates vorschieben. Dieser Staat (in Form der Regierung) ist und war immer erpreßbar. Wie es sich für Politiker gehört (und auch für breite Bevölkerungsschichten) erfolgt innerhalb der Erpreßbarkeit natürlich eine Gewichtung. Von einem bösen Terroristen läßt man sich natürlich nicht so gerne erpressen, wie von einflußreichen Kreisen der Wirtschaft. Um es nochmal zu betonen, es geht ausschließlich um die Erpressbarkeit-Mittel, Wege und Ziele bleiben außen vor-nicht, daß jemand hier etwas falsch versteht.
    Es wäre ein Akt der Mitmenschlichkeit und der Barmherzigkeit gewesen, Schleyer nicht für dem Dogma der "Erpressbarkeit" zu opfern. Damit hätte man wahre Größe demonstriert.

    Reaktionen auf diesen Kommentar anzeigen

    @snowfix...die Entführung von Lorenz zeigte mehr als deutlich, was passiert, wenn man zu allem entschlossenen Verbrechern nachgibt. Helmut Schmidt zu unterstellen, er sei seitens "einflußreicher Wirtschaftskreise" erpressbar ist schlicht unanständig gegenüber einem Mann, dessen Integrität gegenüber Staat und Staatsvolk mehr als genug bewiesen ist.

    Man kann Herrn Schmidt einwandfrei zugute halten, dass er seine relative Härte als Regierungschef unter ein anderes Ideal stellte, wenn es darum ging, zu beweisen, dass ein Rechtsstaat sich durch Terroristen nicht erpressbar zeigen darf. Ob eine solche "Grösse" weniger "wahr" sei, weil sie das "Böse(re)" nicht zulässt, bliebe zu bezweifeln. Icarus

    @snowfix...die Entführung von Lorenz zeigte mehr als deutlich, was passiert, wenn man zu allem entschlossenen Verbrechern nachgibt. Helmut Schmidt zu unterstellen, er sei seitens "einflußreicher Wirtschaftskreise" erpressbar ist schlicht unanständig gegenüber einem Mann, dessen Integrität gegenüber Staat und Staatsvolk mehr als genug bewiesen ist.

    Man kann Herrn Schmidt einwandfrei zugute halten, dass er seine relative Härte als Regierungschef unter ein anderes Ideal stellte, wenn es darum ging, zu beweisen, dass ein Rechtsstaat sich durch Terroristen nicht erpressbar zeigen darf. Ob eine solche "Grösse" weniger "wahr" sei, weil sie das "Böse(re)" nicht zulässt, bliebe zu bezweifeln. Icarus

  6. @snowfix...die Entführung von Lorenz zeigte mehr als deutlich, was passiert, wenn man zu allem entschlossenen Verbrechern nachgibt. Helmut Schmidt zu unterstellen, er sei seitens "einflußreicher Wirtschaftskreise" erpressbar ist schlicht unanständig gegenüber einem Mann, dessen Integrität gegenüber Staat und Staatsvolk mehr als genug bewiesen ist.

    Antwort auf "Sie irren Herr Schmidt"
  7. 7. Wow

    Ich bin zu jung und zu ostig, um den Schmidt noch bei der Arbeit erlebt zu haben, aber... wow. Der Mann macht klare Ansagen, die meine Generation von ihren Politikern gar nicht mehr gewöhnt ist. Okay, wer nicht im Amt ist, hat es natürlich leichter, von Staatsterrorismus zu reden oder sich derartig über Geheimdienstler zu äußern. Trotzdem: ich nehm ihm einen makellosen Idealismus ab, den ich heutzutage allenfalls Ströbele und Merz zutraue und ansonsten schmerzlich vermisse. Kompliment auch an den Interviewer, der das herausgekitzelt hat!

  8. Man kann Herrn Schmidt einwandfrei zugute halten, dass er seine relative Härte als Regierungschef unter ein anderes Ideal stellte, wenn es darum ging, zu beweisen, dass ein Rechtsstaat sich durch Terroristen nicht erpressbar zeigen darf. Ob eine solche "Grösse" weniger "wahr" sei, weil sie das "Böse(re)" nicht zulässt, bliebe zu bezweifeln. Icarus

    Antwort auf "Sie irren Herr Schmidt"

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