Kinder und Medien
Teil 1

Einleitung

Die andauernde Diskussion um die geeignete (gute) Kinder- und Jugendlektüre, die in der frühen Nachkriegszeit mit dem Kampf gegen Schmutz und Schund einen dramatischen Höhepunkt erreichte, wird von der Vorstellung geleitet, dass mediale Einflüsse im besonderen Maße auf die Phantasie und Vorstellungswelt Heranwachsender wirken und entscheidend deren moralische und soziale Entwicklung und damit auch das Sozialverhalten beeinflussen können.

Es herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass eine solche verhaltensmodifizierende mediale Einflussnahme, die sowohl zu erwünschten, als auch zu unerwünschten Ergebnissen führen kann, erst ab einem Alter von etwa 9 - 10 Jahren wirksam wird.

Das hängt damit zusammen, dass ein Kind erst ab diesem Alter die Fähigkeit entwickelt, aus Fiktionen eine 'Nutzanwendung' zu abstrahieren und als Muster für eigenes planmäßiges Verhalten zu nehmen.
Im gleichen Maße wie das Kind erlernt, sich selbst als analog handelnde Person vorzustellen, kann es sich nun aber auch in der Opferrolle vorstellen und macht damit einen entscheidenden Schritt in seiner Gewissensbildung. Denn während das kindliche Sozialverhalten bis dahin von einer Reihe meist nicht einsichtiger aber mehr oder weniger akzeptierter Verhaltensregeln (das tut man nicht....) bestimmt war, gewinnt nunmehr der Satz 'Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem anderen zu' Bedeutung und kann auf emotional - intellektueller Basis zur Handlungsmaxime gemacht werden.
Dementsprechen geht auch der (Österreichische) Gesetzgeber von der Gesetzesvermutung aus, dass Jugendliche erst mit Erreichung des 14. Lebensjahres jene Reife erlangt haben, die sie fähig macht 'das Unrecht ihres Verhaltens einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln', wodurch ihre freilich zunächst noch abgeminderte strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet wird.

Die Mediendiskussion, die es sich zum Ziel setzt, schädliche mediale Einflüsse fernzuhalten und erwünschte zu fördern, hat daher primär die Altersgruppe zwischen 10 und 16 Jahren im Auge, weil für diese Altersgruppe eine besondere Beeinflussbarkeit durch fiktive, medial nähergebrachte Beispiele vermutet wird.

Dennoch sind auch jüngere Kinder medialen Einflüssen durchaus zugänglich.
Zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr beginnt ein Kind einer verbal vorgetragenen, fiktiven Handlung in ihrer logischen Verknüpfung zu folgen und sich das Gehörte bildhaft vorzustellen. Voraussetzung ist, dass die Handlung in einfachen, knappen Worten erzählt wird, eine einfache Struktur aufweist und der Vorstellungswelt des Kindes entspricht.
Ähnliches gilt für bildhafte Darstellungen, die im Fernsehen geboten werden. Das jüngere Kind wird dort einer Handlung nur dann folgen können, wenn sie in einer geschlossenen Szene, wie etwa im kindergerechten Puppentheater geradlinig abläuft. Die Fähigkeit einen Handlungsverlauf der durch wechselnde Szenen und Schnitte unterbrochen wird zu interpolieren, erfordert bereits ein Maß an Abstraktionsvermögen, das sich erst in späteren Jahren entwickelt. Bis dahin mag das Kind zwar Gefallen am lustigen Treiben etwa von Zeichtrickfiguren finden, der Handlung wird es aber nicht folgen können. Allerdings kann das Kind durch einzelne Bilder oder Bildsequenzen auf einer handlungsunabhängigen emotionalen Ebene angesprochen werden. Die Wirkung solcher 'eindrucksvollen' Bilder ist sehr unterschiedlich und führt gelegentlich zu unvorhergesehenen Angstreaktionen. Auch aktionsreiche Szenen und hektische Bildwechsel können eine heftige Irritation und Beunruhigung des Kindes zur Folge haben. Es wird daher nicht zu Unrecht angeraten, Kinder nur sehr vorsichtig mit diesem Medium vertraut zu machen.


Kinder und Märchen

Das Kind lernt sehr früh seine Umwelt und auch sein eigenes Handeln als eine Aneinanderreihung kausal miteinander verknüpfter Ereignisse wahrzunehmen. Sobald das Kind beginnt, sich bewußt mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen, versucht es daher oft erstaunlich konsequent, Ursachen für Ereignisse zu erkennen ( Warum? Papa! Waruum??). Beeindruckende Ereignisse, deren Ursachen nicht gefunden oder verstanden werden können, werden dann oft dem Wirken eines geheimnisvollen, übergeordneten Wesen zugeschrieben, weil es ja doch irgendeine Ursache geben muß. Diese Entwicklunsphase, die ihre Entsprechung in der Kulturgeschichte der Menschheit hat, wird bisweilen als 'Das magische Weltbild des Kindes' beschrieben. Die Versatzstücke dieses magischen Weltbildes stammen aber oft aus früh nahegebrachten märchenhaften Erzählungen. Ein Gewitter mit heftigem Donner kann für ein Kind zunächst völlig zufriedenstellend mit der märchenhafte Geschichte erklärt werden, Petrus spiele auf seiner Kegelbahn. Der Versuch dem Kind etwas über atmosphärische Elektrizität zu erklären, würde auf Unverständnis stoßen und dazu führen, dass das Kind dann eben 'Elektrizität' als übernatürliche, mystische Kraft versteht und unter Umständen noch viel beängstigender empfindet als den viel besser vorstellbaren Wächter der Himmelstür, der sich bloß einen Spaß macht.

In diesem Alter entwickelt das Kind auch eine Vorliebe für Rituale aller Art, weil dadurch in seiner manchmal recht beängstigend empfundenen Erlebniswelt Fixpunkte geschaffen werden, die Sicherheit vermitteln. Allgemein bekannt sind Einschlafrituale oder aber auch das regelmäßige Vorlesen von Geschichten. Dabei mag es das Kind gar nicht so besonders, wenn ihm ständig neue Geschichten angeboten werden. Ganz im Gegenteil. Sobald es einige Lieblingsgeschichten gefunden hat, besteht es darauf, diese ständig wiedererzählt zu bekommen (Den Froschkönig hab ich Dir schon hundertmal vorgelesen, soll ich Dir nicht..? Nein!! Der Froschkönig!!). Sollte der Geschichtenerzähler versuchen einen Absatz auszulassen, wird er sehr bald merken, wie genau sein Kind die Geschichte kennt und entschieden das fehlende Stück reklamiert. Sehr oft wird das Kind daher bis ins Volksschulalter hinein dem Anhören einer vertrauten Geschichte im Rahmen eines sozialen Rituals den Vorzug vor einer noch so kindergerechten Fernsehsendung geben. Besonders beliebt bei Kindern sind auch Erzählungen, in denen einprägsame Verse oder Wortspiele vorkommen. Sie stellen Orientierungspunkte im manchmal noch schwer zu verfolgenden Handlungsverlauf dar und kommen der Neigung des Kindes zu immer wiederkehrenden geradezu magischen Ritualen entgegen. Niemand, der als Kind Bekanntschaft mit den klassischen Märchen gemacht hat, wird diese Passagen vergessen (Spieglein, Spieglein an der Wand.....,Knusper, knusper, kneischen, Wer knuspert an meinem Häuschen/ Der Wind, der Wind, Das himmlische Kind....,Ei, Großmutter, was hast Du für grosse Ohren!/ Dass ich Dich besser hören kann...usw.). Stets wiederkehrende einleitende Passagen wie 'Es war einmal...Einst lebten.....usw. signalisieren dem Kind, dass nun eine Geschichte folgt und unterstützen seine sich ausbildende Fähigkeit zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden.

Es wird in diesem Zusammenhang eine ständige Diskussion darüber geführt, ob die klassischen Märchen für Kinder überhaupt geeignet sind. Der Behauptung 'Kinder brauchen Märchen' (Bruno Bettelheim), um die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu erlernen und zu begreifen, steht die Auffassung gegenüber, viele Märchen seien wegen der in ihnen geschilderten Grausamkeiten für kleinere Kinder, überhaupt abzulehnen. Tatsächlich sind es oft Ungeheuerlichkeiten die in diesen Märchen erzählt werden: Eltern, die ihre Kinder im Wald aussetzten, um unnötige Esser los zu sein, eine kinderfressende Hexe, die ihrerseits erbärmlich schreiend bei lebendigem Leib verbrennt (Hänsel und Gretel), eine Königin, die ihre Stieftochter ermorden lassen will, um ihre Leber und Lungen zu essen (Schneewittchen), eine Frau, die ihrem kleinen Stiefsohn den Kopf abschlägt, den Leichnam kocht und ihrem Mann als Speise vorsetzt (Der Wacholderbaum) - die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.
Jüngere Kinder stehen den schrecklichen Untaten, die in manchen Märchen geschildert werden, aber recht gelassen gegenüber. Die Geschichten mit ihren undurchschaubaren Gesetzmäßigkeiten passen in ihre noch magisch durchwirkte Vorstellungswelt, und werden daher gut angenommen.
Hingegen ist die Fähigkeit der Abstraktion noch längst nicht so weit ausgeprägt, dass die Kinder sich selbst als analog Handelnde oder Betroffene vorstellen können und sie können auch noch keine moralische Bewertung vornehmen.
Zwar werden ihnen die Kategorien 'Gut' und 'Böse' durch diese Erzählungen nahegebracht, sie verstehen sie aber noch nicht als moralische Kategorien, sondern lediglich als Einteilung der handelnden Personen in zwei Gruppen, verbunden mit der impliziten Aufforderung für eine (natürlich die 'Guten') Partei zu ergreifen. Damit wird immerhin die strukturelle Grundlage für eine spätere Gewissensausrichtung geschaffen.
Erst ältere Kinder, die bereits ein gewisses Abstraktionsvermögen entwickelt haben, zeigen oft ein deutliches Unbehangen besonders wenn sie erstmals mit solchen Märchen konfrontiert werden und finden wenig Gefallen daran.

Die Gefahr, dass Kinder durch solche Geschichten an sich geängstigt werden, besteht kaum. Wenn berichtet wird, dass ein Kind, nachdem ihm ein Märchen oder eine Sage erzählt wurde, panische Angst vor dem Schlafengehen entwickelt habe und sich vor dem Basilisken fürchtete, der unter seinem Bett hauste, dann wird wohl Ursache mit Wirkung verwechselt.
Die kindliche Erlebniswelt wird in einem Maße von Urängsten belastet, die viele Erwachsene längst verdrängt haben. Dazu gehört die Angst vor der Dunkelheit, vor dem Alleingelassenwerden, vor Fremden, vor beissenden Untieren und ganz allgemein vor bedrohlich empfundenen Eindrücken aller Art. Ebenso wie das Kind versucht die Ursache von Ereignissen zu erkennen, versucht es auf einer unbewußten Ebene, diesen namenlosen Ängsten eine Ursache zuzuschreiben. Auch hier stammen die Versatzstücke oft aus frühen medialen Einflüsse, wozu wir durchaus auch das Vorlesen oder Erzählen von Geschichten rechnen wollen. Das Kind fürchtet sich also nicht wirklich vor dem Basilisken aus dem Märchen, sondern dieser ist die symbolhafte Ursache für die Angst, in einem dunklen Zimmer alleingelassen zu werden. Sobald es im Zimmer hell ist und sich ein Elternteil in der Nähe aufhält, schwindet diese Angst und mit ihr der Basilisk.
Es liegt also durchaus ein Nutzen in archetypischen märchenhafter Erzählungen, weil sie dem Kind nicht nur helfen - sozusagen vorgefertigte - symbolhafte Ursachen für seine Ängste zu finden, sondern diese auch in der realen Umwelt gezielt anzusprechen. Wenn das Kind zur Schlafenszeit fordert, dass im Kinderzimmer das Licht nicht gelöscht wird und ein Erwachsener dableiben soll, weil sonst der Basilisk, oder ein anderes Ungeheuer hervorkommt, ist es völlig sinnlos, gemeinsam mit dem Kind unters Bett oder sonst in eine dunkle Ecke zu schaun um ihm zu beweisen, dass dort nichts ist. (Du bist doch schon ein grosses Kind! Schau selber, unter Deinem Bett ist nichts; und schon gar kein Basilisk!). Natürlich ist dort jetzt nichts, weil der Basilisk eben ein Geschöpf der Dunkelheit und Einsamkeit ist. Nicht selten reagieren Kinder, auf ein solches Unverständnis mit verstärkten Angst - und Wutreaktionen.

Andererseits können auch Erwachsene im Wege einer Symbolfigur die kindlichen Ängste, denen ja auch eine Schutzfunktion zukommt, ansprechen. Ein Beispiel: Um ein Kind von einem nahen Bach fernzuhalten, wird dem Kind auch erzählt, darin wohne ein Wassermann, der nur darauf wartet, unvorsichtige Kinder, die dem Ufer zu nahe kommen, zu fangen und zu verschleppen. Damit wird die Angst des Kindes angesprochen, von den Eltern getrennt zu werden, was in einem bestimmten Alter viel wirksamer sein kann, als abstrakte Belehrungen über die reale Gefahr
Dieselbe Möglichkeit besteht natürlich in Kinderbüchern. Ein Musterbeispiel ist etwa die Geschichte vom Daumenlutscher aus dem Struwelpeter. Der Knabe Konrad wird von seiner Mutter allein zu Hause gelassen (Konrad sprach die Frau Mama, ich geh aus und Du bleibst da), mit der Ermahnung nicht mehr am Daumen zu lutschen, weil sie ihm sonst 'Der Schneider' abschneiden werde. Kaum verstößt das Kind gegen dieses Gebot, springt aus dem Nichts ein dämonischer Schneider ins Zimmer und schneidet ihm mit einer riesengrossen Schere beide Daumen ab. Am Ende steht das Kind kläglich mit Daumenstümpfen da.
Dieses kleine Geschichtchen ist in seiner Art ein psychologisches Meisterstück. Zunächst wird eine für das Kind angstbesetzte Situation geschaffen. Es wird von seiner Mutter allein zurückgelassen. Kaum setzt der Knabe einen Verstoß gegen ein mütterliche Gebot, bricht die Realität um ihn zusammen und er ist schutzlos seiner Angst, die die Gestalt des angedrohten Schneiders angenommen hat, ausgeliefert. Am Ende wird der Eindruck dieser Situation noch verstärkt, indem die Angst des Kindes vor körperlicher Verletzung angesprochen wird.

Anders als die in dieser Hinsicht tendenzlosen klassischen Märchen, die Kindern helfen können, ihre Ängste zu reflektieren, zeigt diese Geschichte einen manipulativen Zugriff auf kindliche Urängste mit einer deutlich erkennbaren Zielsetzung, nämlich dem Kind die erschreckenden Folgen eines Ungehorsams vor Augen zu führen
Wenig überaschend ist daher auch, dass Kinder, die mit Märchen (noch) kein Problem haben, auf solche Geschichten oft mit Unbehagen und Schreck reagieren.
Erst in den letzten beiden Jahrzehnten versuchen Kinderbücher verstärkt, kleine Kinder auch im positiven Sinn auf einer emotionalen Ebene anzusprechen, um ihnen ein Gefühl der Geborgenheit zu geben und ihnen zu zeigen, wie man Zuneigung ausdrücken kann. Als Beispiel fällt mir dazu die entzückende Hasengeschichte "Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab" von McBratney ein.
Tatsächlich ist die Bedeutung sowohl der klassischen Märchen als auch solcher Erzählungen wie im 'Struwelpeter', die früher in der Kinderliteratur allgegenwärtig waren, in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen und viele Erziehende vermeiden es, ihre Kinder mit diesen Geschichten zu konfrontieren.

Kleinere Kinder sind auf einer logisch - moralischen Ebene medial sehr wenig beeinflussbar.
Während des Volksschulalters lernen Kinder halbwegs verläßlich zwischen magischen Vorstellungen, ihrer eigenen Phantasie und der Realität (der Erwachsenen) zu unterscheiden Vereinfacht gesagt, einmal kommt der Tag, an dem sie nicht mehr an das Christkind, den Klapperstorch und die Frau Holle, die es schneien läßt, oder andere zeitgemäßere Archetypen glauben. Auch Gespenster und vormals durchaus real erlebte Ungeheuer unter dem Bett verlieren dann nach und nach ihre Schrecken. Selbst die Zwerge, die (wirklich!) im Garten wohnten und an die die Eltern nie glauben wollten, sind irgendwann weggezogen.
Die Kinder sind nun zunehmender in der Lage aus Fiktionen 'Nutzanwendung' zu abstrahieren und als Muster für eigenes planmäßiges Verhalten zu nehmen und entwickeln parallel dazu eine wirksame Gewissensinstanz. Jetzt ist die Zeit gekommen ihren Lesestoff besonders sorgfältig auszuwählen um ihnen 'gute Verhaltensrezepte' zu geben und 'schlechte Einflüsse' fernzuhalten.

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Teil 2

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